Die Blumenwiese als Artefakt

– Gedanken über ihre Naturnähe  und Nachhaltigkeit[1]

Wer heute ein Stückchen Land – privat oder öffentlich – zu verwalten hat und den Anschluss an den Ökostil unserer Zeit gewinnen will, findet in den Prospekten der Garten- und Flora-Discounter reichlich Anschauungsmaterial für das ersehnte Biotop. Was immer dieses Wort „Biotop“ auch in Wahrheit bedeuten mag – meistens ist es der Teich, mit Folie ausgelegt, vollgepflanzt und mit allerlei Getier versehen. Aber seit geraumer Zeit auch die Blumenwiese. Die Natur schäumt schier über, denn üppiger als ein Naturstandort zeigt der Katalog dem Gartenfreund, was dieser Biotop zu sein hat und wie man schnell und ohne Umweg einer natürlichen Entwicklung zu seinem Ziel kommt. „Zu seinem Ziel“! – damit ist eigentlich alles gesagt, denn nicht die hier lebensraumgerechte Natur bestimmt den Gang der Handlung, sondern der Mensch mit seiner Naturutopie.

Sollte man dagegen sein?
Ist nicht auch der Ersatz, der runderneuerte Naturverschnitt, lebensspendend? Dies mag für den reinen Naturästheten gelten, der seinen Garten wie einen Acker bestellt und aberntet. Und dies gilt sicher auch für einige dekorative Präsentationsflächen in der Stadt. Für naturnahes Grün entscheidet sich die Frage jedoch anders: Hier ist entscheidend, ob die eingebrachte Naturausstattung die Chance bekommt, mit der weiteren Umwelt in Austausch zu treten, sich zu reproduzieren, sich natürlich ergänzen oder vermindern zu können, um so als ökologische Zelle an der Vernetzung mit vielen anderen Biotop-Zellen der Region teilzunehmen. Denn nur im Verbund mit der Natur der ganzen Region bekommt die kleine Anlage auch eine ökologische Funktion.

Zwei Voraussetzungen müssen hierzu erfüllt sein:

  • Zum Einen muss das Arteninventar der Region angepasst Anatolischer Mohn hat bei uns so wenig zu suchen wie Ochsenfrösche. Denn entweder müssen diese Fremdlinge, weil den klimatischen Bedingungen nicht gewachsen, ständig nachgeführt werden – was meist einen Raubbau andernorts nach sich zieht – oder aber sie erweisen sich als unangepasst dominant, verwildern und werden zur Gefahr für heimische Arten. Meistens aber verschwinden die fremden Arten wieder spurlos.
  • Die andere Voraussetzung betrifft den Eifer des Gärtners: Er muss die natürliche Aspektfolge im Jahreslauf nicht nur tolerieren, sondern respektieren lernen.
    Was nützt die beschauliche Pracht des Sommers, wenn ihr natürlicher Zweck, die Reproduktion, dadurch unterbunden wird, dass die Stängel schon vor der Samenreife entfernt werden.
    Was haben die Wildbienen, Grabwespen und Falter von einem Biotop, in dem mit Saubermanneifer im Herbst ihre Überwinterungs- und Entwicklungsquartiere in Pflanzenstängeln und Bodenstreu vernichtet werden.

Zweifellos ist jede angesäte Blumenwiese und gesetzte Trockenmauer und  jeder künstliche Gartenteich ein Kunstprodukt, ein Artefakt – die dort fußfassende Natur ist jedoch immer weniger ein Kunstprodukt, je mehr sie die Chance hat, sich selber längerfristig zu läutern und einzuleben. Die Pflege solcher Wiesenflächen unterscheidet sich sehr von der üblichen Rasenpflege und erfordert auch mehr Achtsamkeit vom technischen Personal.

So ist auch z.B. der Immengarten vor dem Lübecker Naturkundemuseum solch ein Artefakt – und wird es hinsichtlich seiner Bedeutung als Dekoration für das Museum auch bleiben. Doch haben wir allen Grund anzunehmen, dass die Insektenwelt, die sich in ihm in den vergangenen Jahren eingestellt hat, ihn als willkommenen natürlichen ökologischen Trittstein nutzt. Der von uns beobachtete Artenreichtum an Wildbienen und Solitärwespen hat sich ohne weiteres Zutun eingestellt, d. h. wir haben mit der angebotenen Pflanzenwelt und unseren Nisthilfen die blütenbesuchende Insektenfauna dieser Stadtregion gestärkt. Über einen Zeitraum von sieben Jahren konnten wir auf dieser kleinen Fläche außer unseren hauseigenen Honigbienen insgesamt 49 Arten an Wildbienen aus sieben Bienenfamilien und 50 Arten an Ameisen und solitären Wespen aus ebenfalls 7 verschiedenen Familien nachweisen

Als Anfang der 80er Jahre, der BUND in Lübeck den damaligen Amtsleiter Heinz Hahne bat, ein Stück des Rasens im viel begangenen kleinen Park an der unteren Dr. Julius-Leber-Straße zur Naturwiese umzubauen, winkte Hahne spontan ab – nicht weil er keine Wildblumen mochte, sondern weil er befürchtete, dass ungeschorener Rasen dort sofort als Müllkippe missbraucht würde. Damit möchte ich zu meinem zweiten Punkt kommen:

Wo Menschen auf klassisch geordnetes Kulturgrün geprägt wurden, muss man nicht mit Verständnis dafür rechnen, wenn ihnen plötzlich eine unbekannte Artenvielfalt zugemutet wird.
Das Argument, dass natürliche Artenvielfalt erstrebenswert sei, ist eine relativ junge Wertsetzung, die primär ökologischem und nicht ästhetischem Denken entspringt. Die Erhaltung der Biodiversität ist erst seit dem Umweltgipfel von Rio 1992 zu einem international festgeschriebenen Wert etabliert. Heute spricht man zwar viel über die Notwendigkeit zur Erhaltung der Biodiversität. Aber da man nicht gleichzeitig über die zwei verschiedenen Parameter Ökologie und Ästhetik optimieren kann, ergeben sich zwangsweise Konflikte – insbesondere im Bereich des öffentlichen Grüns. Wo ein verdorrter Stängel der Königskerze für einen malenden Künstler das schönste Motiv für ein Kunstwerk über den samenreichen Herbstaspekt darstellt, bekommt der an ewig aufgeräumte Flächen gewohnte Bürger eine Krise – denn Biodiversität „kann doch nicht sauber sein“.

Einen Ausweg aus dem Konflikt bietet nur intensive Aufklärung.
–  Wozu brauchen wir hier Artenvielfalt?
–  Was habe ich von Pflanzen, die nicht so  groß blühen wie die aus dem Florakatalog?
–  Was haben Pflanzen und Insekten miteinander zu tun?
–  Warum meiden die Bienen die vollblütigen Zuchtformen?
–  Warum sollen die Stauden mit ihrem welken Laub noch im Winter stehen bleiben?
–  Warum sind Meisen, Finken und Spatzen auch im Winter hier?

All diese Fragen haben etwas mit ökologischen Zusammenhängen zu tun. Und dies ansatzweise zu verstehen ist viel wichtiger als die lateinischen oder deutschen Namen der Pflanzen und Tiere zu kennen.

Damit möchte ich auch einem vielgehörten Mantra selbst der Naturschützer widersprechen, wenn es heißt: „Nur was man kennt, kann man schützen!“ – Nein: man wird nur schützen, was man (auch!) schätzt!!!  Und dieses Wertschätzen, das zum Schützen motiviert, kann auf unterschiedliche Weise im Menschen entstehen:

— Zum Einen sind es die schon angedeuteten ökologischen Zusammenhänge, die uns überzeugen können, dass Natur vernetzt ist und wir den Zusammenhang bewahren müssen, wenn wir die einzelnen Arten erhalten wollen.
– Zum Anderen sind es die Bewertungen, die subkutan unser Weltbild prägen. So macht es schon etwas aus, wenn die Wildblumenwiese nicht mehr als „verwilderter“ oder „verunkrauteter“ Rasen gilt, und Unkrautvermehrer heute als Wildsaatgutvermehrer einen guten Ruf genießen.
– Zum Dritten ist entscheidend, was wir als Kinder über die Natur hören. Ob das Gänseblümchen als schön oder lästig, die Spinne als Iiii oder spannend und der Regenwurm als dumm oder äußerst nützlich gilt.

Apropos Kinder: Prof. ZUCCHI von der Fachhochschule in Osnabrück  forschte über die Naturentfremdung bei Kindern und fand heraus, dass Bäume, Büsche, Blumen und andere Naturgegenstände für Kinder z.B. auf dem Weg zur Schule erheblich bedeutsamer sind als ihr relativer Anteil am Weg. D.h. dass z.B. ein Anteil von 10 % des Weges mit diverser Natur als 20 oder noch mehr % empfunden wird. Kinder finden Natur primär spannend und haben Sehnsucht danach.
Ebenso bezeichnend ist, dass Kinder nach ZUCCHI gestaltreiche Grünflächen und Spielplätze, die Materialien zur Gestaltung enthalten, vor monotonen Anlagen und vorgefertigten Spielgeräten bevorzugen. Vieles davon wird heute bei der Anlage von Spielplätzen mancherorts schon beachtet.

Wenn wir noch bedenken, dass nach ALEXANDER MITSCHERLICH, FREDERIC VESTER und anderen die Naturerfahrung im frühen Alter schon ab 2 Jahren für die Grundmusterbildung im Gehirn von Bedeutung ist – und damit auch für die spätere Grundeinstellung zur Natur – dann wird deutlich, welchen Wert naturnahes Grün gerade in unseren städtischen Siedlungsgebieten hat.

Zur großen angesagten Aufgabe der Erhaltung der Biodiversität gehören also zweifellos als maßgebliche Begleitung die Bildungsangebote, die insbesondere in jene Gesellschaftsbereiche hineinwirken müssen, wo Konservativismus und Ahnungslosigkeit  vorherrschen.  Das sind Menschen jeden Alters in unserer Gesellschaft: vor allem Kindern müssen mit wertbildenden Veranstaltungen natürliche Erlebnisräume zugänglich gemacht werden und ältere Menschen müssen (wieder) erfahren, dass  die Erfahrung von natürlicher Artenvielfalt Lebensqualität bedeutet.

Text: Dr. Wolfram Eckloff

[1] Nach einem Vortrag von Dr. Wolfram Eckloff  auf dem Praxisseminar des Naturgarten e.V. – Regionaltage 2015 über öffentliches Grün am 18.5.2015 in Lübeck.

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