Szenen aus dem Immengarten im Jahresgang
Es ist März. Einige Marienkäfer haben sich aus der Streu hervorgewagt und wärmen sich im Sonnenlicht. Die Wärme tut auch der Raubspinne gut, die über den Käfern ruht.
Der Winter geht. Die roten und weißen Glöckchen der Schneeheide beginnen sich zu öffnen. Die Weidenkätzchen werden rund und befreien sich von ihren Hütchen. Das Blaukissen prahlt im Sonnenlicht. Die rotbepelzte Sandbiene erreicht die Erdoberfläche. Ebenso arbeiten sich die Furchenbienen, Wespenbienen und die Blutbienen aus dem Erdreich. Auch der blaumetallische Ölkäfer hat seine Erdhöhle verlassen und kriecht nun schwerfällig umher und befrisst Grasspitzen. Langsam schiebt sich aus dem Boden eine blassgelbe, bedornte Puppe, um den Hummelschweber zu entlassen, eine pelzige Fliege, die Flugkünste vollbringt und mit ihrem langen Rüssel Nektar trinkt.
Aus den Löchern der Mauern und Holzklötze kommen jetzt die Mauerbienen, und die Königinnen der Hummeln und Faltenwespen stemmen sich aus ihren Verstecken hervor. Erwacht ist die Welt der surrenden, summenden Flügel, die Welt der vibrierenden Antennen, des emsigen Krabbelns und Fliegens, des scheinbar rastlosen bald Hierseins, bald Dortseins.
Die Sandbienen beginnen mit der Anlage ihrer Nester und sammeln Pollen von Weide und Ahorn, von Löwenzahn und Gernswurz.
Wie ein Kuckuck wirft der Hummelschweber seine Eier in ihre Brutröhren. Und auf den Blüten lauern die winzigen Larven des Ölkäfers, um sich am Haarkleid der Bienen festzuklammern. So gelangen sie in deren Nester.
Jetzt fliegen im rasanten Flug die Männchen der Pelzbienen um die Blaukissen und erwarten ihre Weibchen. Wie die Hummeln und Mauerbienen holen sie mit ihren langen Zungen den Nektar aus den tiefen Blüten von Katzenminze und Lungenkraut, wo auch Fuchs- und Zitronenfalter naschen. An den unzähligen gelben Blüten des Steinkrauts sammeln kleine Furchenbienenweibchen.
Keine Blüte ist zu gering. Selbst an den Blüten des Vogelknöterichs, den winzigen, die keiner sieht und niemand achtet, nippt eine Wegwespe Nektar im Vorübergehen. In die rosa Schalen der Cotoneasterblüten tunken Weg-, Grab- und Faltenwespen ihre kurzen Zungen. An keiner anderen Pflanze des Immengartens lassen sich so viele Wespenarten nieder, wie auf diesem schlichten Strauch. Gleichermaßen reizvoll scheinen die Blüten der Berberitze für Wegwespen, während sich in der Blütenfülle der Storchschnäbel vor allem die Bienen tummeln. Viele von ihnen sind sehr klein. Sie verlieren sich fast in den roten Blütenschüsseln, an deren Grunde, in deren wohliger Wärme sie gerne verweilen, windgeschützt und sanft gewiegt, oder heftig geschüttelt, je nach Wetter.
Die bunten Hummeln hängen eifrig sammelnd im Salbei oder mühen sich brummend um den Rosenpollen. Das Jahr hat seine erste Hälfte erreicht.
Die großen Lettern „IMMEN GARTEN“ des hölzernen Hinweisschildes kümmern die kleinen Bienen und Wespen nicht, sie wärmen sich darauf.
Auch die Kopfsteine der schmalen Wege und die eingestreuten Findlinge sind da für sie: alles, was im Immengarten Flügel hat, ruht auf ihnen, putzt sich dort, trifft sich, verjagt sich und hält Ausschau. Oder man findet auf ihnen seine Jagdgründe wie die kleine Fliegenspießwespe, oder man mörtelt wie die Töpfer- Wegwespe an Vertiefungen der Oberfläche seine Bauten für die Nachkommenschaft. Man kann unter ihnen Nester gründen wie es die Ameisen tun, oder man kann zwischen ihnen tiefreichende Erdröhren graben wie die Sandbienen.
Die Mauern des Naturhistorischen Museums und des Domes sind für die Bienen und Wespen riesige Felsen. In ihren unzähligen Löchern und Vertiefungen werden die Nächte und kalten Tage verbracht. Hier legen auch Mauer- und Maskenbienen, solitäre Faltenwespen und kleine Grabwespen ihre Nester an. Vom Laub der Rosen und der Weiden, wie überhaupt von allem Blattwerk des Immengartens halten seine kleinen Bewohner und Besucher dasselbe wie von den Steinen: Es ist ein Ort des Putzens, Ruhens und Sonnens; es ist der Rendezvous-Platz für Hummel- und gewisse Grabwespenmännchen, von denen man weiß, dass sie auf ihren Flugbahnen ausgewählte Blätter mit ihrem Duft markieren, der die Weibchen anlocken soll.
Aber es ist auch Ort des Beutegreifens und der Nahrungsaufnahme. Denn die immer und überall herumhackenden Blattläuse benetzen das Laub mit ihrem zuckrigen Honigtau. Beides geschieht: die kleinen Grabwespen der Gattung Passaloecus holen sich die Blattläuse und manche Grabwespen wie Pemphredon und Crossocerus und nicht zuletzt die Ameisen den Honigtau. Trypoxylon, die schlanke schwarze Spinnenjägerin, ist blattüber und blattunter auf der Suche nach Beute, und die nimmermüden Spinnen ihrerseits ziehen ihre oft unumgänglichen Netze.
Doch da sind nicht nur die Wespen auf der Jagd nach Blattläusen und Spinnen, auf Fliegen, Mücken und Zikaden, da ist auch ohne Gnade Wespe gegen Wespe. Niemals jedoch mit dem Ziel der Ausrottung anderer Arten, sondern allein zur Selbstbehauptung der eigenen Art. So ist das Ergebnis dieses Mit- und Gegeneinander nicht Verarmung, sondern im Gegenteil faszinierende Mannigfaltigkeit an Arten – gerade unter den Räubern und Parasiten. Wir sehen z.B. die Goldwespen, diese schönen, glitzernden, glänzenden Wespen mit ihren roten, blauen oder grünen „Gewändern“. In ihrer funkelnden Schönheit sitzen sie in den Blüten, um vom Nektar zu kosten. Meist aber sind sie unablässig auf der Suche nach den Nestern ihrer Wirte. Zu den Parasiten gehören auch die zierlichen Keulenwespen, die aus Mauerbienenzellen schlüpfen, und die seltsam gestalteten Schmalbauchwespen, die den Bauten der Maskenbienen entsteigen. Es lauern parasitische Fliegen und Käfer und die faszinierenden Schlupfwespen, die mit ihren langen, nervösen Fühlern jeden möglichen Wirt aufspüren. Niemand ist hier ohne Feind. Fast allen sind gleich mehrere beigegeben.
Die hohen Staudenstängel des Mannstreu und des Alant tragen an der Last ihrer Blütenköpfe und neigen sich im Wind. Nach und nach verwelken die Blumen des Sommers, und es kommt die Zeit der duftenden Kräuter wie Dost und Bohnenkraut. Nun ist die Hochzeit der Hummeln, der Furchenbienen und Faltenwespen: Die Männchen fliegen!
Man trifft sich an den letzten Blüten. Dort erhält das Weibchen seinen Samen, mit dem es überwintert, um im neuen Jahr für neue Brut zu sorgen.
Der letzte Pollen wird rasch geerntet und der letzte Nektar gesucht. Eine kleine Furchenbiene stochert nach Nektar in den restlichen Astern, die, mager und welk, fast nichts mehr zu bieten haben. An einigen unzeitgemäßen Berberitzenblüten sitzen die letzten heimatlosen Faltenwespen. Mellinus, die gelb-schwarz gestreifte Grabwespe, findet kaum noch Fliegen: es ist nicht mehr ihre Zeit.
Noch blüht ein lila Salbei, und verfehlt hat ein Tuff Bohnenkraut seine Blütezeit. In der weißen Kamtschatkarose sinnt ein Fuchs über seinen Platz zum Überwintern nach. Ein Zitronenfalter flattert verzweifelt im Gespinnst zwischen den Zweigen.
Es ist Oktober. Nur ein Frost noch, und der Duft des Lavendels ist dahin. Für lange Zeit werden Schnee und Kälte herrschen. Aber die Bienen und Wespen sind wie alle Insekten darauf eingestellt. Manche warten als Larve oder Puppe und die anderen als fertiges Insekt in ihrer schützenden Behausung auf das neue Frühjahr.
Und sie sehen nicht, dass ganz allmählich die Schatten wieder kürzer werden, bis die Kraft der Sonne den Lauf des neuen Werdens neu in Gang setzt.
(Aus: Jane van der Smissen und Wolfram Eckloff: Die Wildbienen und Wespen des Immengartens, Lübeck 1992, Museum für Natur und Umwelt, Mühlendamm 1-3, 23552 Lübeck)